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Das Kolloquium
Im Kolloquium schaute der eine Prüfer mitunter gelangweilt auf seine Schuhe (die mich auch gelangweilt hätten) oder aus dem Fenster, wenn er mir nicht gerade die Frage stellte, wie ich Geschichtstests bewerte, welche Bedeutung die Chronologie in der Geschichte hat, und vor allem auf den Richtlinien wie Belzebub herumritt und nach den Prinzipien Wissenschaftsorientierung, Handlungsorientierung, Gegenwartsorientierung sowie nach verbindlichen und freiwilligen Lerninhalten fragte, die Korrespondenz mit dem schuleigenen Lehrplan abcheckte oder sich nochmals nach der Benotung erkundigte, ohne aber die Überlegungen von Michael Sauer dazu zu kennen. Dank einer göttlichen Eingebung hatte ich zwei Tage zuvor die Geschichtsrichtlinien von A-Z gelesen. Von der anderen Seite wurde ich über das Schulgesetz und das Schulmitwirkungsgesetz sowie nochmals über die Notengebung ausgequetscht, um anschließend zum integrierten Deutschunterricht Stellung zu nehmen.
Rückblende
Es war ein sehr schöner Tag – besonders, als er zu Ende war. Vor allem war es ein sehr langer Tag, der am 8. November um 5.30 Uhr begann. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nicht eine einzige Zeile für meinen Deutsch-Entwurf stehen. Diese Situation hatte sich auch knapp zwölf Stunden später, um 16.45 Uhr, noch nicht geändert. Es blieb nur noch eine Möglichkeit: Die Nacht durcharbeiten.
Wie konnte es dazu kommen? Wie konnte es passieren, dass ich erst am 7. November eine Idee hatte, was ich in der Prüfungsstunde machen, wie ich das Potenzial aus vier Wochen intensiver Literaturarbeit nutzen könnte? (Die Lösung fiel im Gespräch mit zwei Kolleginnen: Ich musste einen „Schreibanlass“ schaffen!) Rückblick auf den 23. September 2005: Für die fünfte und letzte Lehrprobe im Fach Deutsch erhielt ich eine glatte sechs; der Schulleiter, die Hauptseminar- und die Fachleiterin waren geschockt. Ich wusste, dass dies die wichtigste Stunde war, die ich je gehalten hatte, weil sie mir zeigte: Ich kann nichts. Mir wurde nichts beigebracht, ich habe allerdings auch die bisherigen Lehrproben angesichts der Multi-Belastung aus Schulalltag mit schwersten disziplinarischen Schwierigkeiten, Journalisten-Tätigkeit, Lehrauftrag an der Uni, Familienarbeit, Haus-Hypothek sowie Schulchaos mit der jüngsten Tochter sowie diverser anderer kleinerer Baustellen nur unter dem Aspekt gesehen: Irgendetwas muss laufen, in Farbe (Helmut Thoma, RTL). Die Vorbereitungszeit lag nie über zwei halbe Tage. Die Taktik hat sich als richtig erwiesen: Im Training wollte ich kein Weltmeister werden, sondern im Endspiel. Zumal die „Trainingsleistungen“ und die entsprechenden Gutachten mit einem Anteil von 1/12 am Gesamtbeurteilungskuchen den geringsten Wert hatten. Aber das Endspiel musste ich erstmal erreichen, was mit einer fünf in Deutsch gescheitert wäre. Tatsache war nun am 23.9.05: Ich musste alle Uhren auf Null stellen, noch mal neu anfangen. Sechs Wochen lang saß ich Tag und oft die halbe Nacht nur am Schreibtisch, einschließlich aller Wochenenden und der Herbstferien, las Literatur, bereitete jede Unterrichtsstunde in meinen Prüfungsklassen mit den entsprechenden Verlaufsplänen so vor, als seien es die D-Day-Stunden, suchte Kontakt mit der Deutsch-Fachleiterin und fand in der Kollegin J. K. endlich jemanden, die Ahnung von Stundenentwürfen hat, sich mit den Gelenkstellen in der Stunde auskennt, Unwägbarkeiten vorausdenkt, Alternativen überlegt, einen großen Methodenkoffer besitzt und vor allem Themen und Stundenziele formulieren kann. Basis-Qualifikationen, die ich in zwei Jahren am Studienseminar vergeblich eingefordert hatte. Besonders die Fachleiterin Geschichte hat hier ein Armutszeugnis abgeliefert: Sinnfreie, endlose Schwafelei über die hehren Aufgaben eines Geschichtslehrers mit einem eigenen Redeanteil von durchschnittlich 70 Prozent (handgestoppt) machten den Großteil ihres „Seminars“ aus. Besprechungen von Stundenverlaufsplänen, ihrer Schwächen und Stärken, Anleitungen für Verbesserungen, also gezieltes Training suchten wir im Gegensatz zu den Teilnehmern des Parallel-Seminars, die zu uns stießen, weil ihr Mentor an die Uni wechselte, vergebens. Bei einer Autoren-Besprechung in Halle sagte mir eine Geschichts-Fachleiterin aus Sachsen-Anhalt, dass einer ihrer ehemaligen Referendare als Lehrer in den Düsseldorfer Raum gewechselt sei. Er berichtete, dass die Düsseldorfer „nichts können“. Die Folgen wurden mir erstmals bei der Vorstellung der geplanten Prüfungs-Stunde eines Kollegen im Fachseminar Geschichte deutlich: Mit einer völlig überladenen Stunde und mit großen Lücken für das Kolloquium zog er in die Schlacht – und scheiterte. Die Konsequenz für mich also: Neuanfang, Autodidaktik, Hilfe von kompetenten Kollegen und erfolgreichen Lehramtsanwärtern.
Der Neuanfang währte bis zum 9. November um 5 Uhr morgens. Nachdem ich in der Nacht um 0.30 Uhr mit dem Hund spazieren war und mir die zweite Luft geholt hatte, schrieb ich um mein Leben. Um 4.30 Uhr war ich fertig, um 5 Uhr hatte ich kein Papier und keine Farbe mehr im Drucker – es fehlten noch drei Ausdrucke und unendlich viele Kopien für den Stundenentwurf, die Gott sei Dank zwei Kollegen um 7 Uhr für mich fertig stellten (was wäre passiert, wenn jetzt der Kopierer gestreikt hätte?). In dieser Nacht hatte ich ein Gefühl, das ich nicht kannte: Ich fühlte mich mickrig, klein, gefangen, gefoltert. Ich weiß nicht, und ich will es auch nicht wissen, wie sich Todesangst anfühlt: Aber waren dies erste Ansätze? Ich hatte ein Stellenangebot von meinem Schulleiter, ein Angebot für eine feste Stelle in diesen verrückten Zeiten, in denen Ford, Bayer, Telekom, Siemens reihenweise Leute rausschmeißen, sie aber gleichzeitig auffordern, ihre Autos und ihre Telefone zu kaufen. Und jetzt so ganz kurz vor dem Ziel scheitern? Das Leben würde anders verlaufen, ich wusste das: Ich könnte am Tag nach der Prüfung zum Sozialamt gehen. Ich hatte keine Patrone, kein As mehr im Ärmel. Alle, die auf mich gesetzt haben, allen voran meine Frau, die im vierten Monat mit unserem dritten Kind schwanger ist, hätte ich enttäuscht. Ein Gefühl, das übermächtig werden kann, das sich vom Schwelbrand zum Flächenbrand entwickeln, mit Arbeit, Arbeit, Arbeit ersticken musste. Dennoch muss ich auch an den Referendar denken, der nicht zur Prüfung kam und sich bis zum Morgen betrank, an die Kollegin, die durchgefallen ist und jetzt jeden Donnerstag mit ansehen muss, wie reihenweise die examinierten Kollegen und Kolleginnen durch die Tür kommen, während sie vielleicht auch beim zweiten Mal scheitern wird und damit nach acht Jahren Uni und „Ausbildung“ ohne einen Beruf bleibt. Ich denke an den Kollegen, der gescheitert ist, weil er nicht die Tonlage traf und dann Sozialhilfe beantragen musste, bis ich endlich daran denke, zu kämpfen.
Um 5 Uhr fahre ich los, Feuersteine, Stroh, Zunder, Korkplatten, Schüsseln etc. im Gepäck. An der Araltankstelle will ich einen Capuccino trinken, um danach die erste Fähre nach Benrath zu nehmen. In der Tankstelle treffe ich meinen Fährmann, er sagt, dass die Fähre erst in einer Stunde ablegt, um 6.15 Uhr. Würde es reichen? Der Hausmeister öffnet mir um 6.30 Uhr, ich präpariere die Klasse mit Lernplakaten und Fotos aus einer Steinzeit-Stunde, wir richten die Feuerstellen her, legen die laminierten Aufgabenblätter aus, stopften Stroh und Birkenrinde in Schüsseln, kopieren, kooperieren (noch nie habe ich eine solche Solidarität gespürt) – und hofieren schließlich die Herren und Damen Scharfrichter, deren Wortführer mir auf 50 Meter Entfernung unsympathisch ist. Er und der Frierende wollten mich durchfallen lassen – sie haben es nicht geschafft. Ich habe Großes geleistet, aber es war die letzte Prüfung meines Lebens.
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