Gedankenspiel zum Referendariat

Grundsätzliche Fragen zum Referendariat können hier gestellt werden
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ryru
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Gedankenspiel zum Referendariat

Beitrag von ryru »

Posts, dass man das Ref abschaffen solle oder man es zumindest grundlegend reformieren müsste, lese ich hier immer wieder, auch mit Interesse. Ich selbst habe mir auch schon öfter die Frage gestellt, wie dies denn geschehen könnte. Wer sich sagt, dass er "nicht schon wieder eine Grundsatzdiskussion" möchte, der möge sich bitte in diesem Post zurückhalten - man kann ja mitdiskutieren, muss aber nicht. Ich möchte gerne die Leute ansprechen, die sich für eine abwechslungsreiche Diskussion öffnen möchten. Dies soll bitte von vorneherein weder ein Jammer- noch ein Lobpreisungsthread werden und sich auch nicht in individuellen Details verlieren. Bitte versucht, den roten Faden beizubehalten, damit dieser Thread nicht doch irgendwann wertlos wird.

Kurz zu mir selbst: Ehemaliger Referendar in Bayern, Lehramt Gymnasium, kam so mittelmäßig durch. Gesamturteil knapp noch "gut", bereits auf einer Planstelle. Das Ref gehört zu den Zeiten in meinem Leben, die ich nicht missen werde, aber ich hege jetzt auch keinen besonderen Groll. Ich habe so ziemlich alles erlebt, von Bevorteilung in manchen Situationen und der "1" in einer Lehrprobe bis zu einer "4" in der Lehrprobe und Ungerechtbehandlung/Psychospielchen. Eine ziemliche Berg- und Talfahrt durch das, was man im Ref so erleben kann, inklusive der Ausbildungsverkürzung und den dadurch entstandenen Schwierigkeiten. Gelernt habe ich durchaus etwas, aber mir war das insgesamt zu ineffektiv. Ich habe ganz verschiedene Lehrerfahrungen vor, während und nach dem Ref gemacht, als freier Dozent, angestellter und verbeamteter Lehrer, in Teil- und Vollzeit. Die Idee, dass das Ref eine Reform vertragen könnte, trage ich schon lange mit mir herum und sie hat sich in den letzten Jahren immer wieder verwandelt.

Ich möchte gerne kurz meine Ideen für eine Reformierung vorstellen und bin insbesondere daran interessiert, wie ihr diese findet, wo ihr Schwachstellen seht und was ihr für vielversprechend haltet. Es geht mir nämlich so, dass ich zu manchen Punkten keine sinnvollen Gegenargumente sehen kann, doch ich frage mich, ob es sie vielleicht doch gibt. Der Einfachheit und Prägnanz halber möchte ich dies in Thesenform gestalten. Also, feel free to discuss!

1. Die Lehrerausbildung gehört nicht an die klassische "Uni": Ich denke, dass eine Art Pädagogische Hochschule wie in anderen (Bundes-)Ländern wesentlich zielführender wäre. Das Argument, dass der Lehrer seinen Schülern um etliche Längen voraus sein müsse, um didaktisch sinnvoll reduzieren zu können oder einfach einen größeren Horizont zu haben, sehe ich nicht ganz ein. Es braucht letztlich nur einen Bruchteil des Uniwissens für den Schuldienst. Dafür kommt der EWS-Teil in der Regel zu kurz. Außerdem ist die Lehramtsausbildung an vielen Unis ein Stiefkind und manchmal läuft sie so nebenher.
Ich stelle mir eine Art Pädagogische Hochschule vor, bei der a) z.B. vier Semester lang das fachliche und fachdidaktische Grundwissen vermittelt wird, das die Lehrpläne der Schulen fordern b) z.B. zwei Semester lang exemplarisch fachlich-theoretisches Vertiefungswissen (schulbezogen!) geboten wird, das z.B. bei einer Lehrplanreform in der mittelfristigen Zukunft den Weg an die Schulen finden könnte und aktuelle Forschungsergebnisse, die schulrelevant sind, aufgreift c) z.B. vier Semester gefüllt sind mit - sinnvollen, variantenreichen und praxisnahen - EWS-Inhalten. In diesem Rahmen könnten auch vier einsemestrige Praktika oder Teile des Ausbildungsunterrichts stattfinden, die Teile des Referendariats ersetzen (z.B. das Einsatzjahr). Wer einen klassischen wissenschaftlichen Abschluss machen möchte, könnte dies dann anschließend in einer Art zwei- bis viersemestrigem Aufbaustudium an einer regulären Uni nachholen oder zusätzlich machen.

2. Das Referendariat wird bundesweit auf ein Jahr verkürzt. Was dadurch möglich wird, dass wesentliche Ausbildungselemente, besonders die theoretischen, bereits auf die Unizeit ausgelagert sind (c)). Vorteile: Man kommt schneller in der echten Schulwelt an, Absolventen sind jünger, haben bei einer Umorientierung mehr Zeit, Chancen für gezielte Weiterbildung, ...
Eventuell könnte man sich dann in dem anschließenden einen Jahr, das vom Ref übrig bleibt, auf das konzentrieren, worum es geht: Das Unterrichten. Begleitend finden stark komprimierte Seminarveranstaltungen wie bisher zu Schulrecht, etc. statt. Ich bin der Meinung, wenn man 1. realisiert, reichen auch Blockveranstaltungen zu je z.B. sechs Wochen zur Ergänzung des Wissens. Eventuell könnte man die schon an die PH auslagern. Man könnte z.B. die beiden Fachdidaktiken koppeln, PädPsycho kombinieren und zeitlich raffen, etc. Staatsbürgerkunde und Schulrecht muss man nicht auf zwei Jahre strecken - meiner Ansicht nach. Hier reichen Intensivkurse. Es wird kontinuierlich gleich viel unterrichtet. Jede auszubildende Lehrkraft hat das genau gleiche Deputat. Alternative: Jede Lehrkraft muss über den gesamten Ausbildungszeitraum hinweg eine festgelegte Zahl an Unterrichtsstunden unterrichten, die freie Verteilung hilft der Schule und der auszubildenden Lehrkraft bei der Berücksichtigung ihrer Wünsche und Bedürfnisse. Mehr Flexibilität im Krankheitsfall, bei großer Belastung, ...

3. Ausbildung nach Bedarf + Reserve x (Bayern-typisches Problem) In Bayern darf jeder Ref machen, der sich anmeldet. Folglich besteht ein teils dramatischer Bewerberüberschuss sowie eine extreme Fluktuation (Schweinezyklus) - Arbeitslosigkeit, Planungsunsicherheit, Druck schon im Ref, .... Sinnvoller wäre es, würde in Bayern streng nach Bedarf + einer engen Notreserve ausgebildet. Also quasi in etwa Einführung eines NCs, der aber ja dank statistischer Methoden über die Jahre und Jahrzehnte wesentlich genauer zu berechnen sein dürfte als dies heute geschieht. In diesem Zusammenhang:

Aufhebung der Fächerbindung Ich sehe keinen praktischen Nutzen darin, dass es nur feste Kombinationen wie D/E, M/Ph, etc. gibt. Warum soll sich nicht jemand zur Lehrkraft für Spanisch und Physik oder Mathematik und Kunst und Englisch ausbilden lassen können, wenn da die Talente liegen? Es entsteht ein vielseitigerer Markt und mehr Flexibilität für Schulleitungen.

4. Planstellen werden von den Schulleitungen vergeben, nicht zentral vom Staat. Endlich wären dann nicht nur die Noten des Ersten und Zweiten Staatsexamens relevant, sondern auch Zusatzqualifikationen, Vorerfahrungen, etc. Das Lehrerauswahlverfahren wäre fairer, zumindest offener, die Lehrerschaft insgesamt bunter und vielseitiger. Konkurrenz belebt das Geschäft. Der Schulleiter könnte sich sein pädagogisches Team besser selbst gestalten, Akzente setzen.

5. Seminarlehrerstellen werden umgestaltet. Aus der starren Gliederung in Fachseminarlehrer, Psychoseminarlehrer, etc. könnte ein Ausbildungsteam werden, das z.B. grundsätzlich aus Fachdidaktikern, Pädagogen, auch Sozialpädagogen (!), Psychologen, externen Experten (z.B. Projektmanagern, Motivationstrainern, Kommunikationstrainern, Sprecherziehern, ...) besteht. Ausbildung und Notengebung werden stärker getrennt. Es darf keinesfalls beides nur in einer Hand liegen. Beispielsweise könnte ein Englisch-Fachdidaktiker aus der Schule der Ausbilder sein, aber ein Gremium aus vier bis fünf Englisch-Fachdidaktikern aus der eigenen und anderen Schulen beurteilt nach einem Schema, das vorher gemeinsam erarbeitet wurde und das transparent ist. Es wechselt z.B. alle vier Wochen der aktuell beobachtende Ausbilder oder das Ausbildungs-Zweierteam (Wochen 1-4: Herr a + Frau b, Wochen 5-8: Frau b + Frau d, Wochen 9-12: Herr a + Frau c, ...). Die Teams oder deren Zusammensetzung wechseln regelmäßig, um Geklüngel zu vermeiden. Das Machtgefälle verschiebt sich hin zu einem Team, das ausbildungsbedingte "Ausgeliefertsein" des Refs gegenüber seinem Seminarlehrer wird relativiert.
Jeder an der Ausbildung Beteiligte übernimmt parallel mindestens ein halbes Deputat an aktivem Unterricht, um die Praxisnähe zu wahren. Die Ausbildung verteilt sich ja auf mehr Schultern, "der Seminarlehrer" ist keine Funktionsstelle mehr, der Einzelne hat weniger Aufgaben. Lehrproben fallen weg, Unterrichtsbesuche sind unbenotet. Unterrichtsbesuche finden dafür häufiger statt, z.B. jeden zweiten Tag. Bewertet wird die Entwicklung der Lehrkraft - über den aktuellen Leistungsstand gibt es wöchentlich schriftlich Feedback, auch in Form der aktuellen Note in den einzelnen Teilbereichen ("Krawattennoten"). Konkrete Verbesserungsvorschläge werden gemeinsam erarbeitet und schriftlich festgehalten. Eher wie in der Wirtschaft, wo Zielvereinbarungen geschlossen und besprochen werden.

Statt dass man nach Schularten ausbildet, sollte man insgesamt allgemeiner ausbilden. Beispielsweise: Lehrer für Grundschule, Lehrer bis zur Oberstufe, Oberstufenlehrer. Eventuell könnten das Blöcke sein, die man schon im Studium "zubuchen" kann oder nicht. Je nachdem, wo man unterrichten will.

Ich sehe so weit fast nur Vorteile und frage mich, wo die Grenzen dieser Ideen liegen. Allenfalls sehe ich sie noch darin, dass es zu manchem einfach zwei Meinungen gibt. Aber ist das wirklich so?

Jméno
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Re: Gedankenspiel zum Referendariat

Beitrag von Jméno »

@1: Eine Lehrerausbildung an der PH finde ich für Grund-, Haupt- und Realschulen durchaus sinnvoll. Der fachwissenschaftliche Bedarf ist in diesen Schulformen deutlich geringer und sollte mit dem eigenen Abitur im Grunde hinreichend abgedeckt sein; dafür sind dort die Herausforderungen in puncto Classroom Management, Pädagogik, Psychologie, Fachdidaktik und »Herunterbrechen« des Stoffes deutlich größer. – Fürs Gymnasium hingegen würde ich den Vorschlag ablehnen. Es mag ja durchaus sein, dass du glaubst, deinen Schülerinnen und Schülern nicht deutlich überlegen sein zu müssen – aber es ist trotzdem hilfreich. Natürlich kannst du dich auf deine Amtsautorität als Lehrkraft berufen und ex cathedra verkünden, man müsse Stoff X lernen, weil er im Lehrplan steht. Auf Schülerinnen und Schüler macht es aber nicht nur einen besseren, sondern auch einen deutlich nachhaltigeren Eindruck, wenn du ihnen darlegen kannst, dass sie diesen und jenen Inhalt lernen, weil sie ihn später da und dort wieder benötigen werden. Als jemand, der mehr als einmal zum Vertrauenslehrer gewählt wurde und einen einstaubenden Deutschen Lehrerpreis im Regal stehen hat, sage ich dir ganz ehrlich: Die angenehmste Unterrichtsführung ist die, wenn deine Schülerinnen und Schüler dir folgen, weil sie Respekt vor deinem Wissen und deinen Fähigkeiten, Dinge und Zusammenhänge nicht nur unterhaltsam, sondern auch sachlich korrekt, verlässlich und einleuchtend zu erklären, haben.

Mehr noch: Es ist unsere Aufgabe an Gymnasien, unsere Lerngruppen auf ein wissenschaftliches Studium vorzubereiten – wie du das schaffen möchtest, ohne selbst je eine Uni von innen gesehen zu haben, erschließt sich mir nicht. Und das hat auch nichts mit einem gymnasialen Standesdünkel zu tun; nicht umsonst unterrichten an Berufsschulen auch Praktiker.

@2: In den meisten Bundesländern beträgt das Referendariat aktuell 18 Monate. Bisweilen beginnen Referendarinnen und Referendare ihre Zeit gleich mit eigenverantwortlichem Unterricht - wovon ich erklärtermaßen kein Fan bin -, ansonsten gehen drei Monate fürs Reinkommen drauf: Hospitieren, Kollegen kennen lernen, Lerngruppen kennen lernen usw. Danach folgen zwei Schulhalbjahre Unterricht – und das ist auch sinnvoll so, weil niemand ein Lehrautomat ist; die Lerngruppen haben das Recht, sich auf dich einzustellen, wenn du sie benotest. Möchtest du die Benotung, das Ringen darum, ob Schüler X sitzen bleibt oder Schülerin Y an die Realschule überwiesen wird, aus dem Referendariat herausnehmen? Das hielte ich für eine ausnehmend unkluge Idee – wäre aber die notwendige Konsequenz eines nach deiner Idee maximal verkürzten Referendariats! Nach den zwei Halbjahren folgt die Prüfungsphase, die insgesamt durchaus drei Monate in Anspruch nimmt. Zwölf Monate halte ich deswegen für unmöglich schaffbar: Abzüglich der Examensphase (drei Monate, immerhin wirst nicht nur du geprüft, sondern ein ganzer Referendarsjahrgang) und einer Orientierungsphase (sechs Wochen, Minimum), bleibt dir ansonsten ja kaum ein Schulhalbjahr. Wie willst du denn in derart kurzer Zeit nennenswerte Lernfortschritte in Prozessen wie Unterrichtsplanung und -reflexion, Rollenwechsel vom Studenten zum Lehrer usw. hinlegen?

@3: Bayernspezifische Probleme, wobei ich die strikte Ausbildung nach Plan für nicht durchführbar halte. Was ist mit jenen, die einen Studienabschluss (Staatsexamen II) brauchen, um danach bei anderen Arbeitgebern anzufangen? Privatschulen, andere Bundesländer, Auslandsschuldienst? Dass eine Arbeitslosigkeit nach erfolgreich absolviertem Referendariat unschön ist, wissen wir alle, aber du verlagerst doch lediglich die Arbeitslosigkeit in die Zeit nach dem Staatsexamen I – also in jene Phase, wo man sich nicht, wenn alle Bundesländer nach deinem Plan agieren würden, nicht mal einen anderen Brötchengeber suchen könnte.

@4: Ist in vielen Bundesländern Realität, kann durchaus Vorteile haben, aber auch Nachteile schaffen. Beispielsweise wäre die Lehrerschaft nicht zwingend »bunter«, wie du schreibst, sondern an Schulen unattraktiverer Standorte – Niederbayern, Lausitz, südliches Oldenburger Münsterland – eben deutlich einseitiger, weil sich mehrheitlich Ortskundige dorthin zurückbewegen. Am Ende hast du Schulen, die aus Personalmangel Notunterricht machen müssen, während im Lehrerzimmer nur die Damen und Herren sitzen, denen die große weite Welt schon immer suspekt war und diejenigen, deren Examen so mies war, dass sie jedes denkbare Angebot in Erwägung ziehen mussten.

@5: Auch das ist anderenorts z.B. durch eine modularisierte Lehrerausbildung (Hessen) oder durch Ausbilderteams (Niedersachsen, wie mir scheint) realisiert. Ich habe in Hessen beispielsweise eine obligatorische Fremdprüfung in einem Fach gehabt – und bin wunderschön reingefallen, denn natürlich ist das eine vorgetäuschte Objektivität: Meine Ausbilderin hat ihren alten Kumpel über all ihre Vorurteile informiert – und seine Vorlieben, die man ansonsten als Prüfling ja gezielt triggern kann, waren mir unbekannt. Auch die Idee, Schule in Sek. I und Sek. II zu trennen, ist in mehreren Regionen durchaus Usus, so fand mein Referendariat beispielsweise an einer Gesamtschule und einem so genannten »Oberstufengymnasium« statt. An ersterem war das Niveau bescheiden, an zweiterem standen die Lehrkräfte durch den Dauereinsatz in der Sek. II und ständigen Prüfungen beständig am Rande des Burn-Outs. Insofern kann ich deinem Urteil, fast nur Vorteile zu sehen, auch hier wirklich nicht zustimmen.

Alles in allem scheinst du mir einen sehr bayernspezifischen Blick auf die Probleme des Referendariats zu haben; das ist zwar nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass es fünfzehn ähnlich Systeme für das Ref in der Bundesrepublik gibt – und als Nummer 16 das bayerische, weil man im Freistaat wieder mal alles anders machen muss. Anders heißt an manchen Stellen sicherlich klüger, an anderen schlimmer und an wieder anderen einfach nur bewertungsfrei anders im Sinne von unterschiedlich. Als Debattengrundlage bleiben damit die Aspekte 1 und 2, wobei ich eine PH nur für GHRS-Lehrer sinnvoll finde, während ich ein 12-monatiges Referendariat für unrealistisch erachte.
…он је метафора, начин живота, угао гледања на ствари!

Rets
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Re: Gedankenspiel zum Referendariat

Beitrag von Rets »

Ad1, zusätzlich zu dem, was Jmeno gesagt hat:

Ich finde es ungeheuer wichtig, so viel Fachkompetenz mitzubringen, wie man bekommen kann. Ich habe es als Schüler super positiv erlebt und versuche das genauso umzusetzen. Wenn man mal ein Problem berührt, dass über den Unterrichtsstoff deutlich hinaus geht und man kann aus der Hüfte heraus eine grobe Skizze z.B. von einem Oberflächenintegral zur Berechnung der Kugeloberfläche als 2-dim Flächenstück im 3-dim Raum geben. Oder man greift eine Schüleräußerung auf und kann die in Verbindung mit Kierkegaard, Nietzsche oder sonstwem setzen, obschon es gerade gar nicht um die entsprechende Person geht...

Solche Dinge schaffen Tiefe, zeigen den Schülern, dass es "mehr" gibt, öffnen Perspektiven und wecken bei manchen Neugier und Interesse.

Ich bin nicht verträumt genug, um zu glauben, dass von solchen Ausschweifungen tatsächlich alle etwas haben, insofern sollte man nicht ständig abschweifen. Aber ich glaube sehr wohl, dass so etwas zu einem umfassenden Bildungsbegriff beiträgt.

(Selbstverständlich muss man vor allem auch auf eine Vernetzung zu schon Bekanntem achten, aber das unbekannte Wissen hat halt - für mich und solche wie mich - auch seinen Reiz.)

Max_Cohen
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Re: Gedankenspiel zum Referendariat

Beitrag von Max_Cohen »

Jméno hat geschrieben:@1: Eine Lehrerausbildung an der PH finde ich für Grund-, Haupt- und Realschulen durchaus sinnvoll. Der fachwissenschaftliche Bedarf ist in diesen Schulformen deutlich geringer und sollte mit dem eigenen Abitur im Grunde hinreichend abgedeckt sein; dafür sind dort die Herausforderungen in puncto Classroom Management, Pädagogik, Psychologie, Fachdidaktik und »Herunterbrechen« des Stoffes deutlich größer. – Fürs Gymnasium hingegen würde ich den Vorschlag ablehnen. Es mag ja durchaus sein, dass du glaubst, deinen Schülerinnen und Schülern nicht deutlich überlegen sein zu müssen – aber es ist trotzdem hilfreich. Natürlich kannst du dich auf deine Amtsautorität als Lehrkraft berufen und ex cathedra verkünden, man müsse Stoff X lernen, weil er im Lehrplan steht. Auf Schülerinnen und Schüler macht es aber nicht nur einen besseren, sondern auch einen deutlich nachhaltigeren Eindruck, wenn du ihnen darlegen kannst, dass sie diesen und jenen Inhalt lernen, weil sie ihn später da und dort wieder benötigen werden. Als jemand, der mehr als einmal zum Vertrauenslehrer gewählt wurde und einen einstaubenden Deutschen Lehrerpreis im Regal stehen hat, sage ich dir ganz ehrlich: Die angenehmste Unterrichtsführung ist die, wenn deine Schülerinnen und Schüler dir folgen, weil sie Respekt vor deinem Wissen und deinen Fähigkeiten, Dinge und Zusammenhänge nicht nur unterhaltsam, sondern auch sachlich korrekt, verlässlich und einleuchtend zu erklären, haben.

Mehr noch: Es ist unsere Aufgabe an Gymnasien, unsere Lerngruppen auf ein wissenschaftliches Studium vorzubereiten – wie du das schaffen möchtest, ohne selbst je eine Uni von innen gesehen zu haben, erschließt sich mir nicht. Und das hat auch nichts mit einem gymnasialen Standesdünkel zu tun; nicht umsonst unterrichten an Berufsschulen auch Praktiker.
Es ist nicht zutreffend, dass am Gymnasium geringere Anforderungen an pädagogische Psychologie oder Fachdidaktik gestellt würden. Ich führe einen wesentlichen Teil der Mythenbildung zum Thema "für Mathe/Physik muss man begabt sein, sonst versteht man gar nichts" auf nicht vorhandene Kenntnisse der Lehrkräfte in den genannten Bereichen zurück. Man muss sich nur ansehen, wer pseudo-medizinischem Unfug hinterherrennt: Das sind mehrheitlich keine bildungsfernen Transferleistungsempfänger, sondern zumeist gut situierte Personen, die angeblich studiert haben - da ein Großteil dieses Blödsinns mit naturwissenschaftlicher Grundbildung aus der Mittelstufe und kritischem Denken zu entlarven wäre, ist davon am Gymnasium und sogar im Studium wohl nicht viel angekommen.
Da alle Menschen im wohlverstandenen Sinne gleich lernen, sind fundierte psychologische und fachdidaktische Kenntnisse über alle Schulformen und Fächer hinweg essentiell. Und auch in punkto CRM muss ich entschieden widersprechen: Unterrichtsstörungen treten überall auf, sie sind nur aufgrund lokaler Gegebenheit mal leichter und mal schwieriger zu beheben.

Meine Ansichten zur (universitären) Fachkompetenz musste ich zumindest in Bezug auf meine eigenen Fächer (M/Ph) im Laufe der Jahre auch revidieren: Es ist leider keinesfalls so, dass das Bestehen des 1. Staatsexamens dazu führt, dass die Lehrkräfte im Bereich der Schulmathematik oder Schulphysik hinreichend sattelfest sind. Es bedarf in beiden Fächern eines klaren Fokus auf schulrelevante Themengebiete, die ansonsten vernachlässigt werden. Um nur ein Beispiel zu nennen: Kaum ein Physiklehrer oder Physiker kann erklären, wie ein elektrischer Stromkreis funktioniert. Dasselbe trifft i.Ü. noch stärker auf die gesamtgesellschaftlich viel relevantere Frage zu, wie Wissenschaft eigentlich zu Erkenntnissen gelangt und wie sicher diese sind; aus diesem Grund kann kaum eine Lehrkraft im MINT-Bereich überhaupt wissenschaftspropädeutisch arbeiten - man hat ja selbst nie wissenschaftlich gearbeitet und es fehlt die wissenschaftsphilosophische Ausbildung, um wissenschaftliches Arbeiten reflektieren zu können.

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