Als Gymnasiallehrer an die Gesamtschule

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Plattypus
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Re: Als Gymnasiallehrer an die Gesamtschule

Beitrag von Plattypus »

tiger hat geschrieben:Wenn die Arbeit an den Gesamtschulen konzeptionell nicht von denen der übrigen Schulen abweichen würde, hätte diese Schulform doch überhaupt keine Legitimation mehr.
Moin,
also für mich ergibt sich die Legitimation für die Gesamtschule in ländlichen Regionen, um dort die Schulwege kurz zu halten. In meiner alten Heimat hatten manche Schüler in Klasse 5 auf einmal 25km Schulweg (einfache Strecke), eben weil es ländlich war.

Also wenn ein Ort nur eine Grundschule hat und dann überlegt, welche weiterführende Schule eingerichtet werden soll und es von den Schülerzahlen eben nur für eine weiterführende Schule reicht, paßt da meiner Meinung nach die Gesamtschule ins Konzept.
In Städten, in denen allerdings schon sämtliche weiterführenden Schulen vorhanden sind, fehlt den Gesamtschulen meiner Meinung nach die Legitimation.

Bei uns am Berufskolleg sieht man es bei den Bewerbern für die Vollzeit-Ausbildungen jedenfalls ganz deutlich. Es gibt Gesamtschüler mit Fachoberschulreife aus dem ländlichen Raum, die trotz schlechterer Noten wesentlich besser sind als ihre Gesamtschul-Genossen aus der Stadt.

Ok, unsere Abteilungsleiter kennen ja inzw. alle Gesamtschulen im Umkreis und können den Wert der Noten der jeweiligen Schule entsprechend einordnen. Fairer würde ich es finden, könnten wir so verfahren wie die Universitäten. An der Uni Paderborn ist es z.B. so, daß erst einmal alle genommen werden, egal ob Allgemeine oder Fach-Hochschulreife. Wer die Klausuren im ersten Semester schafft, darf bleiben, die anderen müssen gehen. Dies würde übersetzt für uns heißen, daß wir erst einmal alle Anmeldungnen annehmen. Die Schüler, die es absehbar nicht schaffen werden (ich rede von mir als fünf 5ern aufm Zeugnis), müßte man dann aber auch schnell (zu den Herbst- und oder Weihnachtsferien im ersten Jahr) wieder loswerden können.

Leider drehen bei uns manche Schüler im ersten Jahr des Berufskollegs zieg Ehrenrunden in den Vollzeitbildungsgängen, bis sie dann irgendwann doch eine Lehre machen. Wir fragen uns dann immer, wie die ohne folgende Dinge in der Mathematik überhaupt die Fachoberschulreife bekommen haben können:
  • 4 Grundrechenarten ohne Taschenrechner
  • Klammerrechnung
  • Prozentrechnung
  • Bruchrechnung
  • Dreisatz
Wenn ich an meine eigene Schulzeit zurückdenke, muß ich gestehen, daß wir das Zeug damals spätestens zu Beginn der 6. Klasse abgefrühstückt hatten. Hab die Mathebücher von damals noch hier.

Oder liegt es daran, daß bei der ganzen heutigen Kompetenz- und Handlungsorientierung der fachwissenschaftliche Inhalt total auf der Strecke bleibt?

tiger
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Re: Als Gymnasiallehrer an die Gesamtschule

Beitrag von tiger »

Es bedeutet eher, dass bei der Kompetenzorientierung das Einüben von Fertigkeiten auf der Strecke bleibt. Beispiel Bruchrechnung: Die Bruchrechenregeln lernen die Schüler heute auch noch, und wohl sogar didaktisch besser aufbereitet als vor 50 Jahren. Allerdings bleibt das Üben aus. Bis die Bruchrechnung "sitzt", muss ein Schüler (über mehrere Schuljahre verteilt) Hunderte von Aufgaben bearbeiten. Das gilt heute als langweilig und daher grausam.

Jula13
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Re: Als Gymnasiallehrer an die Gesamtschule

Beitrag von Jula13 »

Das Phänomen kenne ich gut.
Ich habe eine Schülerin, die mit guten und sehr guten Noten von einer Nachbargesamtschule zu uns gewechselt ist, und bei uns um ihre Qualifikation für die gymnasiale Oberstufe bangt. Sie ist in allen Hauptfächern um zwei Noten abgefallen. Wir sind entsetzt und ratlos und können nicht nachvollziehen, nach welchen Kernlehrplänen die Nachbarn unterrichten.
(Soviel zu meiner These, dass man exakt eine Gesamtschule kennt, wenn man eine Gesamtschule kennt.)

Die Erfahrung, dass dieselbe Note noch lange nicht dieselbe Leistung bedeutet, macht man aber auch auf dem Gymnasium. Da ich schon an mehreren Gymnasien gearbeitet habe, bevor es mich mit der Planstelle an die Gesamtschule verschlug, kann ich das beurteilen.

Die Gesamtschule hat dadurch ihre Berechtigung, dass es viele Schüler gibt, deren Potential sich erst nach der 4. Klasse zeigt, oder die aufgrund unglücklicher Umstände in der GS ihre Leistungen nicht abrufen konnten. Ein Beispiel:
In meiner eigenen Klasse habe ich einen Schüler, der mit wirklich richtig schlechten Noten und dokumentierten großen Verhaltensproblemen von der GS gekommen ist (und wer weiß, wie in NRW GS-Lehrer die Abgangszeugnisse schreiben, weiß, was das heißt). Dieser Schüler ist in meiner Klasse nicht nur unauffällig, sondern auch leistungswillig. Das Gespräch mit den Eltern ergab, dass das Setting an der GS einfach kein glückliches war. Er geriet in eine auffällige Peergroup und mutierte wegen abfallender Leistungen zum verhaltensoriginellen Störer, was wiederum seine Leistungen schmälerte. Die Klassenlehrerin war offenbar mit den Nerven am Ende, was sich in für die Eltern äußerst unangenehmen Gesprächen niederschug. Sprich: Die Situation war verfahren.
Bei uns hat er seine Lücken schnell aufgeholt und hat viel Anerkennung dafür geerntet, was wiederum seine Motivation anspornt. Er ist in der Klasse sozial gut angesehen und profitiert von der Zusammenarbeit mit Mitschülern, die ein hohes Leistungsprofil haben. Er ist auf dem Wege zu einem guten Mittleren Schulabschluss.
In einer Hauptschulklasse mit entsprechendem Umfeld wäre das vermutlich anders gelaufen.

So eine Erfolgsgeschichte ist aber nur bei entsprechender Leistungsdurchmischung und einem hinreichend guten sozialen Umfeld der Gesamtschule möglich.

Die Tatsache, dass viele Gesamtschulen in sozialen Brennpunkten entstehen, disqualifiziert nicht das Konzept.

Tiger, die Problematik, die die Kompetenzorientierung mit sich bringt, ist schulformübergreifend. Die sehe ich durchaus auch.

tiger
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Re: Als Gymnasiallehrer an die Gesamtschule

Beitrag von tiger »

Jula13 hat geschrieben:Die Gesamtschule hat dadurch ihre Berechtigung, dass es viele Schüler gibt, deren Potential sich erst nach der 4. Klasse zeigt, oder die aufgrund unglücklicher Umstände in der GS ihre Leistungen nicht abrufen konnten.
Das dürften eher Ausnahmefälle sein. Aus der pädagogischen Psychologie weiß man, dass die Hauptfachnoten des Grundschulabschlusszeugnisses hochkorreliert mit der Intelligenz sind, die wiederum hochkorreliert mit der Abiturnote ist. (Die Studien belegen auch eine hohe Korrelation der Abiturnote mit dem "beruflichen Erfolg", aber ich habe nicht verstanden, was das eigentlich bedeuten soll. Offensichtlich wird der über das Einkommen gemessen, was ich zweifelhaft finde.)

Warum nicht so: Ein Schüler, dessen Potential sich erst später zeigt, kann aufgrund der Durchlässigkeit des Schulsystems zuerst die Mittlere Reife erlangen und dann in die Oberstufe eines regulären Gymnasiums, eines Berufskollegs o. ä. wechseln und dort das Abitur ablegen. Warum sollte eine Gesamtschule hier die bessere Wahl sein? Bist du nicht elitistisch, wenn du sagst, in "eine[r] Hauptschulklasse mit entsprechendem Umfeld" wäre dieser Schüler untergegangen?

Jula13
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Re: Als Gymnasiallehrer an die Gesamtschule

Beitrag von Jula13 »

Nein, realistisch.
In NRW sind die Hauptschulen zu "Restschulen" verkommen, die nur noch von denen besucht werden, die richtig, richtig schwach sind und deren Eltern sich nicht darum gekümmert haben, sie an einer der besseren Schulen anzumelden. Dazu kommen noch unzählige Inklusionskinder und Sprachquereinsteiger. Das Gefühl, durch die Schulform schon zu den Verlierern zu gehören, verstärkt das Problem noch.
Kollegen, die vorher an Hauptschulen gearbeitet haben, berichten von Zuständen, die regulären Unterricht unmöglich machen.

Im Übrigen haben die Schüler, die als Auswärtige in unsere gymnasiale Oberstufe wechseln, doch erheblich mehr Probleme als unsere Eigengewächse. Es ist schon sinnvoll, vorher auf einer Schule gewesen zu sein, deren Lehrkräfte diese Laufbahn im Blick haben und adäquat darauf vorbereiten.

tiger
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Re: Als Gymnasiallehrer an die Gesamtschule

Beitrag von tiger »

Jula13 hat geschrieben:Kollegen, die vorher an Hauptschulen gearbeitet haben, berichten von Zuständen, die regulären Unterricht unmöglich machen.
Das klingt ja furchtbar. Vor allem, wenn man bedenkt, dass der Name "Haupt"-Schule darauf hinweist, dass hier der Großteil der Schüler ausgebildet werden sollte.

Kodi
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Re: Als Gymnasiallehrer an die Gesamtschule

Beitrag von Kodi »

tiger hat geschrieben: Warum nicht so: Ein Schüler, dessen Potential sich erst später zeigt, kann aufgrund der Durchlässigkeit des Schulsystems zuerst die Mittlere Reife erlangen und dann in die Oberstufe eines regulären Gymnasiums, eines Berufskollegs o. ä. wechseln und dort das Abitur ablegen.
Das Problem ist, dass diese Durchlässigkeit nach oben kaum gegeben ist.

Es ist für uns extrem schwer Schüler an ein Gymnasium abzugeben. Wir bekommen oft Rückmeldungen von sehr ablehnenden Reaktionen den Schülern gegenüber und mangelnder pädagogischer Unterstützung bei der Eingewöhnung in das neue System. Wir haben das inzwischen so gelöst, dass wir ein Partnergymnasium haben, welches mit ähnlichen pädagogischen Konzepten arbeitet, wie wir und das unsere Schüler bevorzugt nimmt.

Die Durchlässigkeit nach unten ist auch ein besonderes Problem.
Wir (Realschule) nehmen regelmäßig Schüler auf, die von Gymnasien abgeschult werden. Die psychisch wieder aufzubauen und lernfähig zu machen dauert oft ein ganzes Jahr. Was da in der Praxis bei der "Herstellung" leistungshomogener Gruppen in einigen Schulen läuft, grenzt an Körperverletzung.

Der Vorteil an der Gesamtschule ist, dass diese Dramen verhindert werden. Es sind und bleiben die eigenen Schüler und es bleibt die Verantwortlichkeit für den Schüler die gesamte Schullaufbahn bei der Schule. Kein Kind muss traumatische Abstiegs- und Schulwechselerfahrungen machen. Es muss keiner dazu gebracht werden zu gehen.

Stattdessen hat die Schulform Gesamtschule die Möglichkeit nicht nur durch innere, sondern auch durch äußere Differenzierung auf die Leistungsunterschiede zu reagieren, wo es Sinn macht.
Das geht natürlich nur, solange die Gesamtschulen nicht zu Gunsten anderer Schulen ausgeblutet werden... oder als Lückenbüßer herhalten müssen.

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