Als Gymnasiallehrer an die Gesamtschule

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Jula13
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Re: Als Gymnasiallehrer an die Gesamtschule

Beitrag von Jula13 »

Also, nun muss ich doch mal zur Ehrenrettung der Gesamtschule schreiten.
Wie es in NS aussieht, weiß ich nicht. Aber in NRW sind die Gesamtschulen konzeptionell und im Hinblick auf die Schülerklientel sehr unterschiedlich.
Manche differenzieren räumlich in E- und G-Kurse, andere nur binnen. Dazwischen gibt es alle Schattierungen.
Einige unterrichten Gesellschaftslehre und Naturwissenschaft integriert von Jg. 5 bis Jg. 10, andere trennen die Fächer sehr früh, wieder andere trennen erst in den höheren Jahrgängen.
Einige IGS arbeiten sehr stark reformpädagogisch mit ganz überwiegend Offenem Unterricht, andere sehr konservativ. Auch dazwischen gibt es alle Schattierungen.
Einige waren inklusive Modellschulen, haben auf diesem Gebiet jahrzehntelang hervorragende Arbeit geleistet, andere starten jetzt erst und erst Erfahrungen sammeln und mit der miesen Ressourcenzuteilung klarkommen.
Einige Gesamtschulen haben eine leistungsstarke Schülerschaft, andere sind quasi Haupt- und Sonderschulen. Demnach haben einige GS eine sehr große Oberstufe, andere eine eher kleine.
Ergo: Wenn man eine Gesamtschule kennt, kennt man exakt EINE.

Was richtig ist: Gesamtschule macht mehr Arbeit als Gymnasium. Ich weiß das, weil ich an beiden Schulformen unterrichtet habe.
Guter Unterricht an der Gesamtschule fordert der Lehrkraft didaktisch mehr ab als am Gymnasium. (Und "guter Unterricht" ist für mich nicht das Abarbeiten Lassen von Arbeitsblattkonvoluten!)
Was aber auch richtig ist: An der IGS ist man auf Kooperation angewiesen. Ein Einzelkämpfer geht langfristig vor die Hunde.

Meine EINE IGS hat eine recht starke Schülerschaft, aber auch eine mit vielen Problemen aller Art. Man muss sich als Klassenlehrer sehr intensiv kümmern und immer präsent sein. Aber diese Arbeit zahlt sich für uns aus, denn wir begleiten unsere Klassen von Jg. 5 bis 10. Für die Schüler insofern, als ca. 2/3 eines Jahrgangs in die gymnasiale Oberstufe wechselt, obwohl nur ca. 40% mit Gymnasialempfehlung zu uns kommen. Ich denke, diese Zahlen zeigen, dass wir nicht allzu viel falsch machen.
Wir arbeiten mit gemischtem Modell:
Wir differenzieren in E- und G-Kurse ab Jg. 7 und 9, wir integrieren Naturwissenschaft bis Jg. 8.
Wir haben Elemente von Offenem Unterricht, aber überwiegend läuft der Fachunterricht klassisch.
Natürlich differenzieren wir auf zwei bis drei Niveaus. Aber bei keinem Kollegen arbeiten die Schüler einfach Module ab. Das würde niemand von uns wollen.
An meiner Schule arbeiten verschiedene Professionen: Sek.I-Lehrkräfte, Sek.II-Lehrkräfte, Sonderpädagogen mit verschiedenen Schwerpunkten, Schulpsychologen, Sozialarbeiter, Schulbegleiter. Wenn wir einander auf eine solche Weise begegnen würden, wie sie tiger hier zeigt, würden wir alle miteinander grandios scheitern. Es ist aber auch nicht nötig. Meine Sek.I-Kollegen leisten sehr gute Arbeit, ebenso die meisten anderen an Schule Beteiligten. Wir haben sehr unterschiedliche Ausbildungen und Arbeitsschwerpunkte und ergänzen uns deshalb optimal. Natürlich hat auch bei uns nicht jeder jeden lieb - aber die unterschiedlichen Professionen sind nie Ursache für . Wir haben doch alle dasselbe Ziel: Wir möchten unsere Schüler zum bestmöglichen Abschluss führen und ihnen dabei so viel Allgemeinbildung und Lebensbefähigung wie möglich mitgeben. Wir möchten, dass sie gerne zur Schule gehen, aber auch lernen, Leistung zu bringen, sich an Regeln des sozialen Miteinanders zu halten und soziale Verantwortung zu übernehmen. Wir möchten, dass sie erfolgreiche, glückliche Menschen werden. Und nicht zuletzt möchten auch wir gut durch unseren anstrengenden Arbeitsalltag kommen, so dass die meisten von uns gerne kooperieren, Material tauschen, Teams bilden, Hilfe anbieten und annehmen.
Deshalb arbeite ich als Sek.II-Lehrkraft mit ausgesprochen gymnasialen Fächern GERNE an meiner IGS.

Drops
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Re: Als Gymnasiallehrer an die Gesamtschule

Beitrag von Drops »

Danke, Jula! Ich werde nun in dieselbe Kerbe schlagen, nachdem ich die Entwicklung dieses Fadens doch recht erstaunt beobachtet habe.

Wenn eine IGS eine Oberstufe hat, so führt sie wie jedes G9 auch zum Abitur und das in der Oberstufe gewiss nicht schlechter oder leichter als an einem Gymnasium. Wie Jule auch weiß ich das aus eigener Erfahrung, da ich an allen drei gymnasialen Schulformen bereits gearbeitet habe: G8, G9 und IGS.

An meiner jetzigen Schule sind 80% Gymnasiallehrer, wir differenzieren ab der 7 in den meisten Fächern auf drei Niveaus, in einigen auch auf zweien, spätestens ab der 9. Klasse überall auf dreien (außer in GL, Kunst, Musik und Sport).
Ich würde mich soweit aus dem Fenster lehnen und behaupten, dass der Großteil meines Kollegiums einen didaktisch sauberen Unterricht macht. Wie in jedem Kollegium gibt es auch hier die berühmten schwarzen Schafe. Sicherlich machen wir auch mal ein Stationenlernen, doch wir lesen in der 9 genauso Schiller wie am Gymnasium, lehren in der 8 die Binomischen Formeln und wühlen uns in der 12 durch Shakespeare. Kein Unterschied zum Gymnasium im Lehrplan.

Der Unterschied liegt vielmehr darin, dass wir wesentlich schülerzugewandter sind, mehr Zeit in Elternarbeit investieren (müssen) und uns generell auf viel Teamarbeit einlassen, denn ohne geht's nicht.
Ja, das zieht einen Rattenschwanz an Konferenzen jeglicher Art nach sich. Nein, das finde ich nicht gut und ich hätte gerne viel, viel mehr Zeit, um nicht nur meinen Unterricht auf die Reihe zu kriegen, sondern auch um mich um alles andere zu kümmern, doch Zeit ist an einer IGS ein noch viel knapperes Gut als an einer anderen Schule.

Ich bin Gymnasiallehrer und werde an meiner Schule auch so behandelt und eingesetzt. Natürlich steht es mir offen, mich auf eine Stelle an einem Gymnasium zu bewerben, warum denn auch nicht? Die ADD interessiert es dann nicht, wo ich vorher war, nur ob ich das entsprechende Zweite Staatsexamen im geforderten Lehramt nachweisen kann.

Lieber Threadsteller, geh demnach dorthin, wo es Dich hinzieht. Wenn Du es Dir leisten kannst, länger auf eine Planstelle zu warten, weil Dir die IGS nicht zusagt, dann mach es auch. Wenn nicht, dann lass Dich einfach darauf ein und bewirb Dich bei Nichtgefallen nach Ablauf der Frist an ein Gymnasium.

kecks
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Re: Als Gymnasiallehrer an die Gesamtschule

Beitrag von kecks »

aus interesse, jule, drops: habt ihr auch die ganz starken, d.h. die zwanzig prozent oder so, die auch schon vor zwanzig jahren auf dem gym gewesen wären? gibt es die an gs? oder wandern die ab?

(hier findet man die allerstärksten gehäuft am humanistischen traditionsladen, klein, elitär, meist extrem leistungsstark).

BW-Refi
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Re: Als Gymnasiallehrer an die Gesamtschule

Beitrag von BW-Refi »

Ich habe nur für BW gesprochen. Dort ist die GS seit Jahrzehnten ein Stiefkind. Kaum eine Landesregierung will investieren.
Die Ressourcen kämen vom Gymnasium: Die Eltern und die Gymi-Lehrerverbäde rebellieren.
Die Ressourcen kommen vom Beruflichen: Wirtschaft und BS-Lehrerverbände rebellieren.
Also herrscht quasi Stillstand. Zu wenig Ressourcen. Man erwartet, dass die Lehrer die Schulentwicklung in ihrer Freizeit machen. Es ist nur rational, nicht an eine Schulform zu gehen wo man locker 10h mehr arbeitet. Auch die Eltern meiden die GS. Es gehen eher die schwachen Hauptschüler dort hin. Das wiederrum schreckt Lehrer ab.. ein Teufelskreis.

Grundsätzlich ist die GS eine tolle Schulform, die ich auch sehr interessant finde. In Berlin würde ich an eine GS gehen, denn dort haben die meist Oberstufen und sind normale Schulen. Das Problem der GS ist die Politik. Nicht die Lehrer dort, nicht die Schüler.

tiger
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Re: Als Gymnasiallehrer an die Gesamtschule

Beitrag von tiger »

Jula13 hat geschrieben:Aber diese Arbeit zahlt sich für uns aus, (...) insofern, als ca. 2/3 eines Jahrgangs in die gymnasiale Oberstufe wechselt, obwohl nur ca. 40% mit Gymnasialempfehlung zu uns kommen. Ich denke, diese Zahlen zeigen, dass wir nicht allzu viel falsch machen.
Das ist nun aber eine gewagte Schlussfolgerung. Wer in die gymnasiale Oberstufe darf, entscheiden schließlich die Gesamtschullehrer durch ihre Notengebung. Daraus zu schließen, die Schüler seien eben so gefördert worden, dass nun ein höherer Anteil für die Oberstufe in Frage kommt, ist nicht zulässig.
kecks hat geschrieben:habt ihr auch die ganz starken, d.h. die zwanzig prozent oder so, die auch schon vor zwanzig jahren auf dem gym gewesen wären? gibt es die an gs?
Das hängt nach meiner Erfahrung davon ab, ob ein Gymnasium in der Nähe ist oder nicht (Eltern wollen verständlicherweise die Schulwege ihrer Kinder minimieren) und ob das Elternhaus bildungsbürgerlich oder bildungsfern, konservativ oder links ist. Läuft es für eine Gesamtschule schlecht, ist der Anteil von Schülern mit Gymnasialempfehlung im einstelligen Prozentbereich; läuft es so, wie es die Gesamtschulkonzeption vorsieht, sind Schüler mit Hauptschul-, Realschul- und Gymnasialempfehlung zu etwa gleichen Teilen vertreten.

Jula13
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Re: Als Gymnasiallehrer an die Gesamtschule

Beitrag von Jula13 »

@kecks
Wir sind in der luxuriösen Lage, dass wir 40% Gymnasial-, 40% Realschul- und 20% Hauptschulempfehlungen annehmen, bei einer Quote von ca. 10-15% Schülern mit festgestelltem Förderbedarf. Ob eine Gesamtschule solche Quoten erreicht hängt von ihrem Standort und ihrem Ruf ab. Ich kenne da auch ganz andere Verhältnisse.
Die ganz extrem Leistungsstarken haben wir auch - allerdings haben die dann oft andere Baustellen, die dazu geführt haben, dass die Grundschullehrer nicht zum Gymnasium geraten haben.

@tiger
In NRW gibt es ein Zentralabitur und Kernlehrpläne, die für jede gymnasiale Oberstufe gelten, egal, ob sie an einem Gymnasium oder einer Gesamtschule durchgeführt wird.
Wir schätzen unsere Schüler sehr realistisch ein und beraten sie sehr intensiv, auch dahingehend, dass wir u.U. KEINE Perspektive für sie in der Oberstufe sehen. Alles andere wäre unverantwortlich. Wir haben doch nichts davon, wenn bei uns die Schüler reihenweise die Zulassung verfehlen oder durch die Abiturprüfungen rasseln.
Außerdem haben auch wir Ehre am Leib und weigern uns, Noten zu verschenken. (Vielleicht gerade wir, eben weil wir uns so oft gegen solche Vorwürfe wehren müssen.)
Zuletzt geändert von Jula13 am 08.05.2017, 11:18:14, insgesamt 2-mal geändert.

bradtaylor
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Registriert: 16.05.2015, 23:07:16

Re: Als Gymnasiallehrer an die Gesamtschule

Beitrag von bradtaylor »

Ich möchte mich zuerst ganz herzlich für Eure vielen Antworten bedanken. Ich hätte nicht gedacht, dass das Thema eine so leidenschaftliche Diskussion entstehen lässt.
Ich denke für mich, wird es wohl das Beste sein, wenn ich die Stelle nicht annehme, da das pädagogische Konzept wohl für mich nichts ist. Wäre es eine IGS, die eher "normal" ohne diese für mich als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme konzipierten Blockarbeitsblätter unterrichtet, könnte ich mich sehr wohl darauf einlassen.
Aber auch das, dass die IGS eher als Sackgasse für spätere Versetzungen gilt, schreckt mich eher ab.
Daher hoffe ich, dass eventuell in einem anderem Bundesland sich Chancen noch zum Sommer auftun, beworben habe ich mich ja.
Ihr habt mir sehr geholfen und ich hoffe, dass sich nun noch etwas ergibt. :-)

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