Als Gymnasiallehrer an die Gesamtschule

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tiger
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Re: Als Gymnasiallehrer an die Gesamtschule

Beitrag von tiger »

Kodi hat geschrieben:Kein Kind muss traumatische Abstiegs- und Schulwechselerfahrungen machen. Es muss keiner dazu gebracht werden zu gehen.
Also, was dieses Problem mit der "Durchlässigkeit nach unten" angeht, muss ich als Gymnasiallehrer sagen: Problematisch ist, dass viele Eltern ihre Kinder entgegen der Grundschulempfehlung am Gymnasium anmelden und dann auch noch jahrelang bezüglich eines Schulwechsels beratungsresistent sind, bis schließlich – nach mehrfachem Sitzenbleiben – der Verbleib auf dem Gymnasium nicht mehr möglich ist. Ich glaube durchaus, dass die Grundschullehrer nach vier Jahren einschätzen können, an welcher Schule die Kinder erfolgreich sein können. (Ja, das hat auch mit der sozialen Herkunft zu tun. Aber die Realität ist: Ein Kind, dass aus einem bildungsbürgerlichen und fördernden Elternhaus kommt, leistet oftmals auch mehr als das Kind aus bildungsferner Familie, weil die Rahmenbedingungen einfach besser sind.)

An der Gesamtschule mögen zwar alle unter einem Dach sein, aber die Kinder merken doch auch, in welcher Leistungsgruppe sie sind – wer die besonders schweren Aufgaben bekommt, bei wem der Übergang in die Oberstufe wahrscheinlich ist und so weiter.

bradtaylor
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Re: Als Gymnasiallehrer an die Gesamtschule

Beitrag von bradtaylor »

Müssen denn Gymnasiallehrer, die als Gymnasialkraft an der IGS eingestellt sind, mehr Stunden absolvieren als die 23,5 in Niedersachsen?

Plattypus
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Re: Als Gymnasiallehrer an die Gesamtschule

Beitrag von Plattypus »

Jula13 hat geschrieben:In NRW sind die Hauptschulen zu "Restschulen" verkommen
Moin,

und da aufgrund des Makels der Hauptschulen diese inzw. so wenige Schüler haben, daß sie dichtgemacht werden, mutieren so langsam die Gesamtschulen bzw. wahlweise Sekundarschulen zu den neuen Restschulen.
Und ja, es gibt Klassenkonstellationen, wo Unterricht einfach unmöglich ist. Nur erzähl das mal der politischen Führung. :roll:

Sagt mal, wie schafft ein Analphabet bei uns die Fachoberschulreife mit Q-Vermerk? Solche Leute schlagen nämlich dutzendfach bei uns im Berufskolleg auf. Da muß doch wohl schon während der gesamten Schullaufbahn etwas schiefgelaufen sein, oder?
Ich kenne jedenfalls einen Rektor einer Gesamtschule. Den habe ich mal gefragt, wie es zu dieser Noteninflation kommt. Seine Antwort war nur: "Wir saßen da in der Zeugniskonferenz und wollten den Schüler loswerden, weil sonst Kollege x im nächsten Schuljahr mit Burnout die Segel streicht. Da gabs dann noch die 4."

Leider fängt dieses System schon in der Grundschule an. Ich finde es jedenfalls bezeichnend, daß keiner meiner Kollegen bereit ist seine/ihre Kinder in eine Grundschule zu schicken, wo gemäß dem Grundsatz "Schreiben nach Gehör" unterrichtet wird. Die bestehen alle auf dem klassischen Unterichtsansatz, auch wenn sie dann 20km fahren müssen.

tiger
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Re: Als Gymnasiallehrer an die Gesamtschule

Beitrag von tiger »

Plattypus hat geschrieben:daß keiner meiner Kollegen bereit ist seine/ihre Kinder in eine Grundschule zu schicken, wo gemäß dem Grundsatz "Schreiben nach Gehör" unterrichtet wird
Ist doch verständlich. Ich würde mein Kind niemals auf eine Schule schicken, die nachgewiesenermaßen verhindert, dass ihre Schüler das Schreiben lernen.

Ich habe neulich eines meiner Schulhefte aus der dritten Klasse auf dem Speicher gefunden. Zwischen meiner Rechtschreibung und Zeichensetzung von damals und dem, was meine Schüler in der 5.–8. Klasse heutzutage abliefern, liegen Welten. Ich dachte immer, wenn die Schüler die Grundschule verlassen, ist der Schriftspracherwerb (mit Ausnahme von den schwierigeren Zeichensetzungsregeln) weitgehend abgeschlossen. Heute kann man (am Gymnasium!) nicht einmal mehr die Regeln zur Groß- und Kleinschreibung voraussetzen, ganz davon zu schweigen, dass die Handschriften vieler Schüler einfach fürchterlich (krakelig, ungleichmäßig, teilweise nicht entzifferbar) aussehen und man eher von einem "Malen" als von Abschreiben sprechen müsste, so langsam und ungelenk wirkt das.

Aus meiner Sicht erledigen die Grundschullehrer ihre Aufgaben nicht richtig. Das mag an Zuwanderung und Inklusion liegen, ist aber keine Entschuldigung. (Damit kritisiere ich eher die Politik als die Grundschullehrer!)

Plattypus
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Re: Als Gymnasiallehrer an die Gesamtschule

Beitrag von Plattypus »

tiger hat geschrieben:Zwischen meiner Rechtschreibung und Zeichensetzung von damals und dem, was meine Schüler in der 5.–8. Klasse heutzutage abliefern, liegen Welten.
Nicht nur da! Wenn ich mich noch an meine Grundschulzeit erinnere, wurde da in Klasse 3 oder 4 gelehrt, wie man Briefe zu schreiben hat mit groß geschriebener Anrede und allem, was so dazu gehört. Das machen wir heute mit unseren 17 Jährigen Berufsschülern. :roll:

Was bei mir aus der Grundschulzeit Mitte der 1980er da z.B. hängengeblieben ist: Wenn man als Mann einen Brief schreibt, gehört in die Anrede "Sehr geehrte Damen und Herren", schreibt man jedoch als Frau einen Brief, muß da "Sehr geehrte Herren und Damen" rein, halt immer das andere Geschlecht zuerst.
So, jetzt zeig mir mal einen Akademiker, der diese Feinheiten heute noch drauf hat. An Schüler wage ich da gar nicht mehr zu denken. Hier mal ein Beispiel dafür, daß es Manche heute noch können:

--> http://edelgard-bulmahn.de/imperia/md/c ... reform.pdf

Was die Inklusion und das selbstentdeckende Lernen angeht, muß ich zugeben, daß ich damit gehörig auf Kriegsfuß stehe. Es gibt halt manche Dinge, gerade in einem technischen Berufskolleg, die einfach zu gefährlich sind, als das man die Schüler bzw. Azubis da Fehler machen lassen könnte. Wenn jemand mit Handschuhen eine Drehmaschine (im Volksmund "Drehbank") bedient und sich der Handschuh in der Maschine verfängt, reißt die nicht nur den Handschuh weg sondern auch gleich noch die ganze Hand darin mit ab. Im Elektrolabor sieht es nicht viel anders aus. Da programmieren die Schüler Steuerungen für die Hausautomation. Da das Zeug normalerweise in Sicherungskästen verbaut wird und man an manchen Stellen Spannungen (230/400V) messen muß, gibt es da offene Kontakte, die auch stromführend sind. Als ich im letzten Schuljahr zwei Inklusionskinder da mit betreuen sollte, habe ich das aus Sicherheitsgründen abgelehnt, solange keine in die speziellen Gefahren eingewiesene Fachkraft wirklich in jeder Minute dabei ist.

Denken die etwa, daß das alles Spielzeug ist, mit dem wir da im Unterricht hantieren?

Ähnlich sieht es mit den Abschlußprüfungen aus. Da hat unser unser Chef auch schon gefragt, warum so viele Azubis durchfallen. Wir haben nur noch die Gegenfrage gestellt, ob er die Azubis bei seinem Auto an die Radbolzen und an die Bremsanlage lassen würde, oder daheim an die Elektro- und Gasinstallation. Weil nach bestandener Gesellenprüfung dürften sie das nämlich ganz offiziell. So leid es mir in dem Moment auch tut, aber da sehe ich mich eher als Gatekeeper, um die Gesellschaft vor fatalen Folgen der verfehlten Noteninflation zu schützen.

Was sich bei den Azubis orthographisch aber noch viel schlimmer auswirkt als die lasche Grundschulpädagogik, ist meiner Meinung nach die Political Correctness in den Aufgabenstellungen. Früher hieß es "Meister und Lehrling", dann kam "Ausbilder und Auszubildender" und heute steht da "Ausbildende und Auszubildende", auch wenn nur von einer Person die Rede ist. Die Worte klingen alle viel zu gleich, als das die Azubis da in der Streßsituation einer Prüfung noch unterscheiden würden. Dementsprechend sind die Ergebnisse von Multiple-Choice-Prüfungen, wo ale wissen, daß es nur eine richtige Antwort gibt, heute durchweg schlechter als bei offenen Fragestellungen.

Jula13
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Re: Als Gymnasiallehrer an die Gesamtschule

Beitrag von Jula13 »

In meinen Augen liegt es aber auch an den Deutsch-Lehrplänen in der Sek I.

Die sind völlig überfrachtet mit vielen verschiedenen inhaltlichen Themen, so dass man von Klassenarbeit zu Klassenarbeit hecheln muss, und dabei keine Zeit mehr für vertiefende Grammatik- und Rechtschreibübungen (oder auch mal zum Lesen!) hat. Was nützt es den Schülern - bei aller Liebe zur Literatur - wenn sie neben Märchen und Fabeln auch noch Lügengeschichten kennengelernt haben, aber keinen einzigen Satz grammatisch korrekt zu Papier bringen können?
Dazu kommt noch, dass inzwischen Hausaufgaben an der Ganztagsschule nicht mehr zulässig sind, so dass die zeitaufwändigen Schreibübungen nun im Unterricht erledigt werden müssen, ohne dass ich denen, die die Zeit vertrödeln, die Aufgabe erteilen darf, den Rest zu Hause zu erledigen. Freiwillige Aufgaben machen zu Hause ohnehin nur die Starken. Die Schwachen, die man zu ihrem Glück zwingen muss, haben wieder das Nachsehen. So wird das nichts mit der Chancengleichheit.*
Es werden einem von der Schulpolitik immer mehr Möglichkeiten genommen, Schüler zu fördern und ihnen zu den nötigen Kompetenzen zu verhelfen. Ohne Hausaufgaben lernen sie nie, sich einfach mal alleine und ohne Hilfe mit einer Aufgabe oder einem Thema zu beschäftigen. Dabei wäre das so wichtig - gerade in schwierigen Klassen, in denen die Schüler selten konzentriert arbeiten können, weil immer Unruhe herrscht.
Das muss ja gar nicht zu Hause passieren. Ruheräume in der Schule mit Aufsicht würden ja schon reichen, in denen Redeverbot herrscht und jeder Arbeitsplatz separat ist. Aber die Hausaufgaben sind ja ersatzlos gestrichen und nicht durch zusätzliche Lernzeiten ersetzt worden. Das würde ja Geld kosten ...

*À propos Chancengleichheit: Gleiches Problem mit der unseligen "Schreiben nach Anlauttabelle"-Methode. Die starken Kinder, und die, deren Eltern ihre Aufgaben korrigieren und ihnen zu Hause Rechtschreibung beibringen können, haben damit kein großes Problem. Die einen lernen, egal wie, bei den anderen werden es die Eltern schon richten. Auf der Strecke bleiben mal wieder die Schwachen und die Kinder, die zu Hause keine Unterstützung erfahren.

Aber wir lassen ja in NRW kein Kind zurück.

tiger
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Re: Als Gymnasiallehrer an die Gesamtschule

Beitrag von tiger »

Jula13 hat geschrieben:In meinen Augen liegt es aber auch an den Deutsch-Lehrplänen in der Sek I. Die sind völlig überfrachtet mit vielen verschiedenen inhaltlichen Themen
Ich musste neulich sehr lachen, als ich das Curriculum unserer Schule von 1891 im Archiv gefunden habe. Da stand zum Beispiel sowas:

Quarta.
Mathematik: Hauptsächlich Geometrie. Oberlehrer Maier.
Deutsch: Übungen in der Rechtschreibung. Hauptlehrer Schultz.
usw.

Soviel zum Thema Curricula. Mittlerweile sind das pro Fach mehr als hundert Seiten lange, schwülstig geschriebene Wälzer, bei deren Lektüre man meint, ein Fünftklässler könne angesichts all der angeblich erworbenen Kompetenzen direkt ein Hochschulstudium beginnen.

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