Offene Bildungsräume

Diskussion zu pädagogischen Themen aller Art
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Stark
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Offene Bildungsräume

Beitrag von Stark »

Folgenden Ansatz habe ich im "jetzt"-Magazin der Süddeutschen gefunden. Es geht dabei um eine Abiturientin (FOS Bayern), die ursprünglich dafür kämpfen wollte, die Notenvergabe komplett abzuschaffen, und jetzt ein völlig anderes Konzept umsetzen möchte:
Sie will an ihrer Schule, der Fachoberschule (FOS) für Gestaltung, „offene Bildungsräume“ als Pilotprojekt einrichten. Zimmer also, die die Schüler alternativ zum Unterricht besuchen dürfen. Raum für Eigeninitiative und Persönlichkeitsentwicklung. Jeder kann sich dort mit dem beschäftigen, was ihn oder sie interessiert – der Philosophie Kants, den Mendelschen Regeln der Vererbung, den Ereignissen der Fußball-Bundesliga. Und zwar anstelle des normalen Schulstoffs.
Es geht dabei um einzelne Schulstunden, nicht um eine völlig freie Alternative zum gesamten Unterricht:
Jeder Lehrer soll selbst entscheiden, ob er seine Schüler freistellt. Es gibt einen stillen Arbeits- und einen Gesprächsraum. Es besteht Anwesenheitspflicht – entweder im Regelunterricht oder im Bildungsraum. Lehrstoff, der versäumt wird, muss eigenständig nachgearbeitet werden. Und die Schüler legen ein Notenziel fest. Wenn sie es nicht erreichen, müssen sie mit dem Lehrer sprechen, ob sie weiter teilnehmen dürfen.
Der Schulleiter der Schule, an der sie das Pilotprojekt durchführen durfte, nennt schon mal einige der bürokratischen Schwierigkeiten:
„Es ist natürlich toll, wenn eine Schülerin sich engagiert. Als Systemvertreter muss ich aber natürlich auf Schulordnung und Schulgesetz verweisen“, sagt Schmid dazu in einem Telefonat. Schüler vom Unterricht zu befreien, das sei so leicht nicht möglich. Und außerdem eine Kostenfrage: Wissenschaftliche Begleitung, Räumlichkeiten, Projektvorbereitung seien erforderlich.
Er verweist natürlich auch auf schon bekannte (reformpädagogische) Konzepte, etwa Montessori.

(Der ganze Artikel: http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/anze ... 927/Allein)

Ich bin ja nun auch kein Freund reformpädagogischer Bewegungen und finde persönlich durchaus, dass zum Gymnasium eine gewisse Leistungsorientierung gehört.
Trotzdem gefällt mir dieser Ansatz ganz gut, da ich schon beobachte, wie wir (- zumindest ich) besonders begabte Schüler zu wenig fördern (können?). Mit solchen punktuellen Freiräumen wäre ein guter Anfang geschafft.
Besonders gefällt mir an diesem Ansatz, dass er - anders als es im pädagogisch-bildungspolitischen Diskurs normalerweise üblich ist - nicht sofort alles umwerfen und revolutionieren möchte, sondern wirklich im Kleinen beginnt und auch umsetzbar wirkt.
Gerade im bayerischen gymnasialen Schulsystem müsste man gar nicht so schrecklich viel an Stundentafel, Personalausstattung und Räumlichkeiten ändern, wenn man das Konzept der Intensivuerungsstunden anpasst.

Gibt es denn Schulen, v.a. Gymnasien und Oberstuden - auch außerhalb Bayerns - die bereits in diese Richtung gehen? Das würde mich sehr interessieren!

Illi-Noize
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Re: Offene Bildungsräume

Beitrag von Illi-Noize »

Zumindest gibt es Lehrer, die für schnelle Schüler (z. B. bei Einzelarbeit) noch weitere Aufgaben, die etvl. über das Thema hinaus gehen, parat haben. Die Geschichte mit diesem "Extra-Raum" wäre fast schon das gleiche, nur dass eben die Materialien allen Schülern zugänglich sind und eine Themenauswahlmöglichkeit besteht.

Was mir grad noch so einfällt: Vertretungsstunden könnten so - statt Film anschauen, Klassenmemory & Co. - viel sinnvoller genutzt werden. Warum nicht - einen Versuch ist es auf jeden Fall wert, oder?

Kodi
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Re: Offene Bildungsräume

Beitrag von Kodi »

Wir haben so etwas ähnliches und nennen das Selbstlernzentrum. Einzelne Schüler dürfen dort in Absprache mit den Lehrern hin. Bei uns darf das allerdings den regulären Unterricht nicht völlig ersetzen, sondern ist ein Ergänzungsangebot zur individuellen Förderung, hauptsächlich für gute Schüler.

Damit das ganze gut funktioniert, muss den Lehrern klipp und klar sein, dass so ein Ort gerade kein Trainingsraum ist, also nicht dazu dient um Störer loszuwerden. Das Funktionieren hängt also auch entscheidend von der Schulkultur ab.

Zwei Probleme haben sich bei uns ergeben.
Für den naturwissenschaftlich technischen Bereich kann man aus rechtlichen Gründen nur sehr ausgewähltes Experimentiermaterial vorhalten, was zudem teuer und schwer vollzählig zu halten ist.
Weiterhin bereitet die Aufsichtspflicht Probleme. Wir decken derzeit ca. 25% der Unterrichtszeit mit unseren Öffnungszeiten ab. Mehr geht stellentechnisch selbst bei reduzierter Anrechnung der Stunden nicht. Das ist insofern schade, weil natürlich auch die restliche Zeit durchaus ein Bedarf für das Selbstlernzentrum da wäre.

cyhyryiys
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Re: Offene Bildungsräume

Beitrag von cyhyryiys »

Mich erinnert das etwas entfernt an Freiburger Abiturienten, welche vor einigen Jahren mal einen eigenen Oberstufenunterricht für sich organisierten und sich "frei" aufs Abitur vorbereiteten (Abi für Schulfremde). Das ist jedoch nichts für jeden Schüler, es bedarf auch bei offenen Lerrnräumen seitens der Lernenden die eigenständige Bereitschaft zum Dazulernen - etwas, das man in der normalen Schule aber nicht vermittelt bekommt, geschweige denn von nötigen Methodenkenntnissen die Voraussetzung für ein erfolgreiches Eigenständiges Lernen sind (z.B. wie stelle ich eine Suchanfrage im Internet, die mich tatsächlich zu einem Ziel führt?). Auch die Ausstattung solcher Räume ist knifflig, da sie anregendes Material UND ausreichend Arbeitsplätze für alle Stufen anbieten sollten. Dennoch führt kein Weg dran durch, auch in der Schule eigenständige Lernmöglichkeiten anzubieten und diese zu fördern, möchte der Standort D auch zukünftig mit qualifiziertem Personal dienen können.

Illi-Noize
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Re: Offene Bildungsräume

Beitrag von Illi-Noize »

cyhyryiys hat geschrieben:Dennoch führt kein Weg dran durch, auch in der Schule eigenständige Lernmöglichkeiten anzubieten und diese zu fördern, möchte der Standort D auch zukünftig mit qualifiziertem Personal dienen können.
Warum ist das Personal qualifizierter, wenn man eigenständige Lernmöglichkeiten anbietet? Da kann ich genauso behaupten, dass das Personal sogar dümmer wird, weil zig Schüler sowas gar nicht nutzen und so Zeit verschwenden...

TonAmm
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Re: Offene Bildungsräume

Beitrag von TonAmm »

cyhyryiys hat geschrieben:Mich erinnert das etwas entfernt an Freiburger Abiturienten, welche vor einigen Jahren mal einen eigenen Oberstufenunterricht für sich organisierten und sich "frei" aufs Abitur vorbereiteten (Abi für Schulfremde). Das ist jedoch nichts für jeden Schüler, es bedarf auch bei offenen Lerrnräumen seitens der Lernenden die eigenständige Bereitschaft zum Dazulernen - etwas, das man in der normalen Schule aber nicht vermittelt bekommt,[..]
[..] doch ist das nicht eigentlich genau das, was einem dort abtrainiert wird? Bevor man Schüler wird, lernt man doch ununterbrochen dazu. Lässt das dann nicht irgendwie zumindest quantitativ nach, statt dass es qualitativ vom jeweiligen Schüler abhängig ist?

Bitte gestattet mir diese rhetorischen Fragen. Ich bin auf den Austausch hier aufmerksam gemacht worden. Ich studierte Erziehungswissenschaft an einer Uni bis 2010 und seither frei. Meinen Einstieg ins angesprochene Thema fand ich (mal abgesehen von Henry David Thoreau) dank John Gatto. Aus seiner Materialsammlung vielleicht soviel:
  • Mindestens eines seiner zahlreichen Bücher ist bereits deutschsprachig erschienen,
  • Anfang der 1990er Jahre schrieb er als Lehrer seine Kündigung (die zu finden ist mit "I quit. I think.")
Er ist beileibe nicht der einzige Wissenschaftler und Autor, der sich in meiner inzwischen angesammelten Bibliothek findet. Doch er ist der kontroverseste, hat eigene Kinder (im Gegensatz zu beispielsweise einem John Holt) und war zudem selbst knapp 30 Jahren lang Lehrer in unzähligen Schularten.

Ich freue mich über Austausch. Das eilt jedoch nicht.

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